Slaughter, Karin - Grant County 06 by Zerstoert

Slaughter, Karin - Grant County 06 by Zerstoert

Autor:Zerstoert
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Kapitel 12 Lena

Lena saß, den Rücken an die Wand gelehnt, an Hanks Küchentisch, und wartete, dass er nach Hause kam. Die Uhr über dem Herd tickte laut, und Lena musste sich zwingen, ihren Atemrhythmus nicht dem Geräusch anzupassen. Der Mercedes stand in der Auffahrt, also musste er irgendwann nach Hause gekommen sein, aber im Augenblick war er nirgendwo zu finden. Das Haus war leer, der Schuppen und der zerbeulte, alte Pick-up im Hinterhof ebenfalls. Sie war an der Bar vorbeigefahren, hatte im Krankenhaus angerufen und hatte sogar mit einem alten Knacker im Büro des Sheriffs gesprochen, der nur den üblichen Spruch mit den vierundzwanzig Stunden warten abgelassen hatte, aber Hank war ganz einfach verschwunden. Sein Handy lag auf dem Küchentisch, der Akku war leer. Der Anrufbeantworter zeigte keine Nachrichten an. Die blaue Metallkiste, sein Drogenbesteck, war verschwunden. Ohne sein Besteck ging Hank nirgendwohin. Anscheinend hatte er es mitgenommen, was bedeutete, dass er das Haus aus freien Stücken verlassen hatte - aber das sagte ihr nicht, wohin er gegangen war.

Lena wusste nicht einmal, was sie tun sollte, wenn er wieder auftauchte. Was würde sie sagen, wenn er jetzt gleich durch die Tür kam? Was sollte sie ihn denn fragen? Vier Stunden waren vergangen, seit sie in der Schule mit Charlotte gesprochen hatte, aber diese Stunden hatten ihr nicht mehr Klarheit gebracht.

Hank war also nicht am Steuer dieses Autos gesessen.

Angela Adams hatte ihre eigene Tochter angefahren und war dann - was? Einfach davongebraust? Hatte es Hank überlassen, sich um die Folgen zu kümmern und die Schuld auf sich zu nehmen?

Das Einzige, was Lena geschworen hatte, ihm nie zu verzeihen - und er hatte es nicht einmal getan? Die Wut auf ihn, die sie fast ihr ganzes Leben lang empfunden hatte, kochte noch immer in ihr, jetzt aber wusste sie nicht mehr, wogegen sie sie richten sollte. Sollte sie wütend sein auf ihre Mutter, eine Frau, an die sie sich nicht einmal mehr erinnern konnte? Was war so schlimm an Angela Adams, dass Hank die Leute lieber in dem Glauben ließ, er sei schuld an der Blindheit seiner Nichte, als den Mädchen zu sagen, dass sie noch lebte? Was hatte sie ihnen allen angetan?

Die Sonne ging langsam unter, und die Neonröhre über dem Spülbecken tauchte die Küche in ein fluoreszierendes Licht. Hanks AA-Broschüren lagen noch immer auf Tisch und Boden verstreut und stapelten sich auf dem Gasherd. Die Uhr tickte weiter, während Minuten, dann eine ganze Stunde verstrichen.

Nach dem Unfall hatte Sibyl sich nicht mehr erinnern können, dass sie überhaupt auf die Einfahrt gelaufen war oder auch nur daran, dass sie mit Lena Ball gespielt hatte. Damals meinte der Arzt, dass das bei so schweren Verletzungen ziemlich normal sei und manchmal die Erinnerungen nie mehr zurückkehrten. Die Zwillinge hatten danach nie richtig darüber gesprochen. Vielleicht hatten sie es als Kinder getan, doch noch einiger Zeit waren Sibyls Blindheit und die Ursache dafür Dinge, die sie beide als gegeben hinnahmen. Über den Unfall zu reden wäre gewesen, als würde man darüber reden, dass die Sonne jeden Morgen aufging: eine Selbstverständlichkeit.



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